Ein Projekt, ein Wille und ein Film
Prof. Dr. Ilhan Tomanbay
Das türkisch-deutsche Abenteuer, das in den 60er Jahren mit der Migration von Arbeitern und ihren Familien aus der Türkei nach Deutschland (und in andere europäische Länder) begann, dauert bis heute an, bewegt sich inzwischen aber auf einer anderen Ebene. Es ist seitdem viel Zeit vergangen; die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Erwartungen, die Probleme und auch die Menschen selbst. Diejenigen, die zu Beginn dieser Migrationsbewegung nach Deutschland gingen, haben Kinder, von denen viele heute wiederum Kinder haben … Und die Ereignisse und Probleme von damals, denen sich die ersten Migranten gegenübersahen, sind heute nicht mehr aktuell. Man beschäftigt sich mit dem neuen Leben neuer Menschen, deren Lebensumstände und Fragenkomplexe sich sehr von denen der ersten Generation unterscheiden. Dabei haben sich in den letzten 50 Jahren auch die Perspektiven der Sozialarbeit in Bezug auf Migration, ihre Reaktionen darauf, ihre Anschauungen sowie berufsbezogene Praxismodelle geändert.
Die ersten Migranten machten einen Unterschied zwischen Deutschland und der Türkei, aber die Generation, die sich jetzt dort niedergelassen hat, und auch ihre Kinder machen wiederum einen anderen Unterschied zwischen den beiden Ländern. Desgleichen hat Deutschland vor 50 Jahren die türkischen Arbeiter und ihre Familien als Fremde angesehen; jetzt sieht man sie vielleicht auf eine andere Art und Weise und begegnet ihnen auch in differenzierter Form. Alles ist Veränderungen unterlegen.
Ich ging damals als Gewerkschaftler nach Deutschland und beobachtete die dort arbeitenden, „eingedeutschten“ Türken. Heute fahre ich als Hochschullehrer nach Deutschland und beobachte die dort lebenden Türken mit anderen Augen. Während meiner früheren Aufenthalte wurden unterschiedliche Austauschprogramme durchgeführt, und wir diskutierten über Themen, die heute nicht mehr auf der Tagesordnung stehen. Bei meinen jetzigen Besuchen sehe ich, dass sich die Austauschprogramme und damit gleichzeitig die Begeisterung und die Erwartungen der daran teilnehmenden Studenten, ihre Auffassungen und Wertvorstellungen geändert haben. Nicht nur die von uns geführten Diskussionen, sondern auch die von uns erarbeiteten Projekte haben sich verändert.
Auch das Thema des im Jahre 2009 zwischen den Studenten der Evangelischen Hochschule Freiburg und denjenigen meiner Abteilung Sozialer Dienst der Hacettepe-Universität veranstalteten Seminars war ein anderes : Diversity. Bei den in den beiden Ländern veranstalteten Seminaren ergaben sich unterschiedliche Diskussionspunkte und Anschauungen der daran teilnehmenden Jugendlichen, und die Lehrkräfte, die die Seminare leiteten, erfüllten diese ihre Aufgabe auf eine ihnen eigene Art und Weise. Ebenso unterschieden sich Interesse und Wissensstand.
Die früher durchgeführten Studienreisen mit ihren Begegnungen sind jetzt zu Seminaren geworden. Während bei den damaligen Reisen die Weiterentwicklung von Wissen und Erfahrung im Vordergrund stand, reicht es für die Menschen von heute nicht mehr aus, nur zu diskutieren; es werden Ergebnisse und Produktivität erwartet.
Am Ende des 2009 sowohl in Freiburg als auch in Ankara durchgeführten Seminars wurden die gemeinsamen Veranstaltungen in wissenschaftlicher Form und diese wiederum als Film herausgebracht. Abstrakte Arbeiten haben konkrete Ergebnisse gezeitigt, und soziale Arbeit wurde dabei zur Kunst.
Mir ist bewusst, dass die an den in Ankara und Freiburg stattfindenden workshops teilnehmenden Studenten der Hacettepe-Universität ein großes Maß an Wissen und Erfahrung gewonnen haben. Sie waren dabei sehr glücklich und haben durch die gegenseitige Kommunikation viel gelernt. Mir ist auch bewusst, dass sie nach ihrem Aufenthalt in Deutschland, bei dem sie dort viel über Sozialarbeit und soziale Dienste gelernt haben, die in der Türkei praktizierte Sozialarbeit und die sozialen Dienste mit anderen Augen sehen und bewerten. Meine Beobachtungen haben gezeigt, dass die Ansichten von Jugendlichen, die in Kontakt mit einer fremden Kultur und einem berufsbezogenen Umfeld treten, sich rasch entwickeln, sie die Welt in Folge dieser Entwicklungen anders auffassen und sich dabei ihrem Beruf noch mehr verbunden fühlen. Gleichzeitig steigen auch ihr Interesse an fremden Sprachen sowie ihr Lerneifer, wodurch der Lernprozess einer Fremdsprache beschleunigt wird.
Die Umwandlung der Projektarbeiten in einen Film, durch den erkennbar wurde, dass die Anstrengungen der Beteiligten ein konkretes, auch für sie sichtbares Ergebnis zeitigten, hat wahrscheinlich bei ihnen noch größere Begeisterung hervorgerufen. Die Studenten der Hacettepe-Universität haben sich dem Ausland geöffnet und dabei ihr gewohntes Lebensumfeld überschritten. Sie haben Freunde in Deutschland gefunden und mit diesen dauerhafte Freundschaften geschlossen. Ihr Freundeskreis hat sich erweitert, und das ist vielleicht einer der wichtigsten Gewinne, den sic aus diesem Projekt gezogen haben, nämlich eine Dilatation der Sozialisation. Eine Sozialisation der Jugendlichen auf dieser Ebene kann ihre Zukunft und ihr Berufsleben erleichtern und viele Annehmlichkeiten für sie bereitstellen.
Auch für mich ist die Tatsache, dass meine Studenten praktische Erfahrungen und Kenntnisse gewonnen, ihren Freundeskreis vergrößert, Begegnungen mit dem Ausland gemacht und dabei die Unterschiede zwischen den Menschen, den Werten, den Kulturen, der berufsbezogenen Praxis und den Jugendlichen beider Länder gesehen und erlebt haben, Anlass zur Begeisterung. Die Studenten haben gesehen, dass die Welt nicht einfach ist; ihr Eindringen in fremde Lebensformen, ihr Erkennen von Unterschieden sowie das von ihnen gezeigte Begreifen der Mannigfaltigkeit erfüllt mich als Hochschullehrer mit unendlicher Freude und Zufriedenheit.
An erster Stelle möchte ich darum hier Prof. Dr. Beate Steinhilber, die das vorliegende Projekt, das zur Bereicherung meiner Studenten beitrug und mir Lust und Freude auf die Mitarbeit bereitete, erarbeitet und geleitet hat, sowie den auf allen Ebenen des Projektes jeglichen Beitrag geleistet habenden Institutionen und Personen meinen Dank aussprechen. Des weiteren danke ich den Studenten der beiden Universitäten, die am Projekt beteiligt waren, sowie der Diakonie Baden und den Jugendlichen des Jugendzentrums Freiburg neben den Leitern und Verwaltern der letztgenannten Einrichtung für ihre Teilnahme an den workshops. Auch ich habe durch dieses Projekt viel gewonnen.
Das, was von diesem Projekt jedoch am längsten im Gedächtnis verbleibt, ist der „Anders ist anders“ betitelte Film, von dem ich hoffe, dass er in vielen, sich der Sozialarbeit verschrieben habenden Hochschuleinrichtungen Europas als Unterrichtsmittel Verwendung finden wird. An dieser Stelle möchte ich darum auch den Lehrkräften und Studenten der Münchener Hochschule für Film und Fernsehen meinen herzlichen Dank aussprechen. Sie haben es ermöglicht, dass dieser Film als ein Teil der Sozialarbeit angesehen werden wird.
Gleichzeitig ist der Film sehr bedeutsam in Bezug auf seine Darstellung, welchen Stand das seit nunmehr 50 Jahren andauernde Abenteuer der Migration zwischen der Türkei und Deutschland inzwischen erreicht hat.
Im Anschluss an die Uraufführung des Films im Februar 2010 in Freiburg wird er in der Türkei das erste Mal im Mai 2010 in Ankara gezeigt werden. Zwei Tage später soll in Istanbul, der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2010, eine große Gala anlässlich der Filmvorführung stattfinden. „Anders ist anders“ auf der Achse Deutschland – Ankara –Istanbul …
(11.02.2010, Ankara)